Bautypus und künstlerische Gestaltung eines Innenraumes oder einer Raumfolge hängen von 4 Grundvoraussetzungen ab:

  1. Funktion
  2. Konstruktion
  3. anschauliche Wirkung
  4. ideelle Bedeutung
1. Funktion:
  • Hauptkirche des Bischofs und des Bistums in den franz. Kronlanden im 12. und 13. Jh entstanden.
  • Königskirche: gebunden an die Zentralgewalt des franz. Königs und an den Territorialbesitz des Adels. Geistige und Politische Verknüpfung von Kirche und Staat durch die Verwandtschaft der Bischöfe mit dem König und deren Beraterfunktion.
  • Krönungskirche und Grablege der Könige.
  • Sitz des Domkapitels.
  • Legitimer Ort für Festmessen zur Feier des heiligen Königtums.
  • Pfarrkirche der Gemeinde.
  • Wallfahrtskirche, Reliquienkult.
  • Die Innenräumlichkeit mußte multifunktional nutzbar sein. Kirchliche Versammlungen, Zeremonien, Umzüge und Wallfahrten mußten räumlich getrennt organisiert werden. Trennende Elemente sind Chorschranken und Lettner.
  • Dimensionierung von Raum und Ein/Ausgängen für große Menschenmassen.
  • Die räuml. Gliederung ist durch das Einheitliche Grundmuster der Raummodule charakterisiert.
2. Konstruktion:
  • System des Spitzbogens. Vorteile gegenüber dem Rundbogen: Variable Breite und Tiefe des Gewölbes bei gleicher Scheitelhöhe.
  • Statik: Direktere Druckableitung auf die senkrechten Stützpfeiler.
  • Auflösung der Wand hin zu einem Gerüst, Skelett. Vielfältige Durchbrechungen mit großen Glasfenstern ohne statische Gefährdungen der Stabilität möglich.
  • Sicherung der hohen und steilen Gewölbefelder durch Kreuzrippen und äußere Strebesysteme( Strebebögen und –pfeiler.
  • 1 zu 2 Verhältnis von Höhe Hauptschiff zu Höhe Seitenschiff.
  • Strebesysteme sind außen als konstruktives Gerüst sichtbar.
  • Alle architektonischen Teile des Baues sind in erster Linie auf die Schaffung eines bedeutenden Innenraumes hin angelegt. Die Gestalt der Kathedrale ergiebt sich aus dieser Zielsetzung.
3. Anschauliche Wirkung:

Ziel des Systems ist die anschauliche Wirkung auf den Betrachter:

  • Der überwältigende Eindruck der Raumhöhe und der Flucht gleichförmiger Joche im Mittelschiff.
  • Das Erlebnis wechselnder, ineinander verschobener Ansichten von Raumteilen – verstellt, getrennt, addiert durch Stützreihen und eine gitterartige Wandgliederung.
  • Lichtwirkung durch farbige Glasfenster: Die einströmenden Farbfluten lösen die Wände in farbige Lichtflächen mit nicht bestimmbarer Materialität und Distanz auf. Die enorme Bauhöhe und großen, farbigen Glasfenster lassen die Kathedrale zu einem Lichtraum werden, der durch das statische Steinskelett gegliedert wird.
  • Die diaphane Struktur der Wand und das baldachinartige Gewölbe.
  • Der Wechsel von verschatteten und hell leuchtenden Räumen und Flächen.
  • Immaterialität der Lichtwand in Analogie zur Symbolik des Goldgrundes in der mittelalterlichen Malerei.
4. Bedeutungsgehalt:

Erklärungsmodell für die Deutung des Sinngehaltes der gotischen Kathedrale:

  • Lichtmetaphysik von AUGUSTINUS und THOMAS VON AQUIN
  • Das natürliche Licht wird im Einfall durch die farbigen Scheiben sichtbar und offenbahrt sich als übernatürliche Kraft.
  • Die Kostbarkeit des Goldes als Material und Symbol göttlicher Herrlichkeit (z.B.: in mittelalterlichen Mosaiken, Buch- und Tafelmalereien) findet hier im farbigen Licht ihre Analogie.
  • Alle architektonischen Mittel materieller und optischer Art lassen sich demnach auf einen Zweck zurückführen: Die Darstellung eines überirdischen Raumes, des "himmlischen Jerusalems" oder" zweiten Paradieses" als "Abbild des Himmels".