Zur Theorie des Pointilismus  (Neoimpressionismus / Divisionismus)

Paul Signac: "Die Farbenzerlegung" 1899

"Neoimpressionismus bedeutet prismatische Zerlegung der Farben und deren Mischung durch das Auge des Beschauers..."

Thesen:

Der Impressionismus beruht auf Intuition und Flüchtigkeit, der Neoimpressionismus auf Überlegung und Beständigkeit. Betonung der reinen Farben. Nur die im Farbkreis un­mittelbar benachbarten Farben werden miteinander gemischt oder mit Weiß aufgehellt. Farben werden als einzelne Pinselstriche aufgetragen, deren Größe im richtigen Verhältnis zur Größe der Leinwand stehen. Mischungen ergeben sich optisch, durch den Abstand des Betrachters zum Bild. Dadurch werden farbige Grautöne durch direkte Mischung von Kom­plementärfarben vermieden. Gleichzeitig können Komplementärkontraste im Licht - Schat­tenbereich eingesetzt und die Bildleuchtkraft und Helligkeit gesteigert werden.
"Das Ziel der Farbenzerlegung ist, der Farbe höchstmöglichen Glanz zu geben, durch die Mischung der nebeneinandergesetzten Farbteile im Auge farbiges Licht zu erzeugen, den Licht- und Farbenglanz der Natur."

Thesen:

Das Kunstwerk stellt eine überlegte Gestaltung dar, ohne jegliche Zufälligkeit der Natur. Der Pinselstrich besitzt keinerlei Ausdruckswert. Stimmungen sollen rein durch Linien, Farben und Farbtönungen entstehen.

"Die Farbenzerlegung ist ein Harmonie anstrebendes Systen, mehr eine Ästhetik als eine Technik."
"Die Bilder der Neoimpressionisten sind weder Studien noch Staffeleibilder, sondern Bei­spiele einer Kunst von großer dekorativer Entfaltung, welche die Anekdote der Linie, die Analyse der Synthese, das Flüchtige dem Beständigen opfert und der Natur, die mit­lerwei­le der zweifelhaften Verwirklichungen müde war, eine unantastbare Wahrheit ver­leiht."

Georges Seurat "Harmonie" 1890, (1859 – 1891 Paris)

"Kunst ist Harmonie. Harmonie wiederum ist Einheit von Kontrasten und Einheit von Ähnlichem, im Ton, in der Farbe, in der Linie."

Thesen:

  • Die Harmonien teilen sich auf in Ruhe, Heiterkeit und Trauer.
  • Tendenzen in Ton, Farbe und Linie erzeugen jeweils diese Harmonien:

Ruhe:

  • Gleichgewicht von Dunkelheit und Helligkeit.
  • Gleichgewicht von Warm und Kalt.
  • Horizontale Ausrichtung der Linie.

Heiterkeit:

  • Vorherrschaft der Helligkeit.
  • Vorherrschaft der warmen Farben.
  • Aufsteigende Linie.

Trauer:

  • Vorherrschaft der dunklen Farben.
  • Vorherrschaft der kalten Farben.
  • Absteigende Linie.

Die Seine bei der Insel Grande Jatte im Frühling, um 1887

Stimmungen im Bild sollen ausschließlich durch die bildnerischen Mittel Ton, Farbe und Linie entstehen, ohne jegliche sichtbare emotionale Beteiligung des Malers. Seurats Äs­thetik der Harmonie ließt sich wie eine Rezeptur und ist auch in seinen Bildern folgerich­tig eingesetzt. Hier: Harmonie der Ruhe.

Der Zirkus, 1890/91

1779 als Akademiestudent die vierte Gruppenausstellung der Impressionisten gesehen. Theoretische Auseinandersetzung mit der Wahrnehmungsphysio­logie. Aufbau der Spektral­farben, Wirkung von Farbe und Form, Komplementärkontraste, Relativität der Farbe, optische Mischung und Steigerung der Leuchtkraft. Die Linie ge­winnt wieder an Bedeu­tung (Klassizistische Akademieausbildung) als Stimmungsträger. Dauerhaftigkeit versus Flüchtig­keit (analog Cézanne).

Das Zirkusmotiv:

  • Seurats letztes Bild. Faszination des Artistenmilieus als Kontrast zum festgelegten Lebens­rhythmus der bürger­lichen Gesellschaft.
  • Formale Merkmale:
  • Ornamentale Stilisierung der Bildfiguren.
  • Flächigkeit der Figuren und des Bildraums.
  • In sich geschlossene Kreisbewegung der Komposition.
  • Komplementäre Licht-Schatten-Anlage.
  • Steigerung der Leuchtkraft des Bildes.
  • Harmonie der Heiterkeit.

Die flächige Bildkonstruktion, die strenge Bildornung, die theoretische Versachlichung und Reflexion der bildnerischen Mittel nehmen Tendenzen des Kubismus und des Konstruktivismus vorweg.