Das Emotionale und Expressive in der Malerei Edvard Munchs (1863–1944 Norwegen)
Das kranke Kind, 1885/86
"...auf den Bildern der Impressionisten ist es immer Sonntag."
Bildthemen von der Schattenseite des Lebens wie Hunger, Armut, Krankheit und Tod stehen im Gegensatz zu den Themen der Impressionisten, mit Ausnahme von Toulouse-Lautrec. Hier ist Munch dem frühen Picasso und den Bildern seiner "Blauen Periode" verwandt. Der bleigraue Grundton des Bildes erzeugt eine passiv-schwere Stimmung. Der Einsatz von Komplementärkontrasten erinnert an Van Gpgh. Sie sind aber nicht mit klaren, flächigen Abgrenzungen gestaltet, sondern mit rauchig-weichen Übergängen, die der Form Tranzparenz und Atmosphäre verleihen. Diese wurden durch wiederholtes Abkratzen der Farbe von der Leinwand erzeugt. Daher ergeben sich auch die farbigen Grautöne - eben durch die Komplementärmischung. Die hellste Stelle des Bildes ist das fast durchsichtige Gesicht des kranken Mädchens. Das Zentrum bilden die sich berührenden Hände. Form und Farbe erzeugen eine beklemmende Irrealität, (Blick ins Leere, unsichtbare Lichtquelle, heiligenscheinartige Beleuchtung des Mädchens).
Mehrere Fassungen des Themas: 1895/96, 1906, 1926/27
"...die Fassungen sind alle verschieden und jede stellt auf ihre Art einen Beitrag zu dem dar, was ich beim ersten Eindruck empfand." (Munch war damals 14 Jahre alt.)
Persönlicher Bezug:
- Schwester Sophie, starb 1877 mit 15 Jahren an Tuberkulose.
- Die kompromisslos radikale Art der bildnerischen Aufarbeitung des seelisch belastenden Motivs durch die rohe, zerkratzte und schmutzige Malweise, verursachten bei der ersten Ausstellung des Bildes Protest und Spott.
"...ich kann behaupten, daß kaum ein anderer Maler sein eigenes Motiv bis zum letzten Wermutstropfen so miterlebt hat wie ich im 'kranken Kind'."
Leben:
1863 in Norwegen geboren. Vater war Arzt im Armenviertel von Oslo, neigte zur Schwermut. Armut der Familie. Mutter starb, als Edvard 5 Jahre alt war; die Schwester Sophie einige Jahre darauf an Tuberkulose ("Erster Eindruck"). Seine zweite Schwester wurde geisteskrank. Der Vater verviel darauf in religiösen Wahn. 1885 Malereistudium. 1889 Staatstipendium und Atelier in Paris. Leben und Arbeit abwechselnd in Frankreich, Deutschland und Norwegen. 1892 Austellungsskandal in Berlin. Bilder mußten auf Druck einflussreicher Kritiker abgehängt werden. "Berliner Sezession" entstand (Lovis Corinth, Max Liebermann). 1908 Nervenkrise, Sanatoriumaufenthalte. Ab 1910 öffentliche Anerkennung, Aufträge und Austellungen in ganz Europa. 1937 Diffamierung als entarteter Künstler durch die Nationalsozialisten. Beschlagnahmung und Versteigerung des Werkes. 1944 stirbt Munch in Norwegen.
"Ich, welcher krank in die Welt hineinkam - in kranker Umgebung - welchem die Jugend ein Krankenzimmer und das Leben ein strahlend sonnenbeleuchtetes Fenster war - mit herrlichen Farben und Freuden und dorthin - draußen möchte ich gerne im Tanz dabeisein - im Tanz des Lebens."
Stilistische Merkmale:
- Tendenzen des Realismus und Impressionismus (Frankreichaufenthalte).
- In der Druckgraphik Anklänge von Jugendstil durch schwingende Wellenlinien und umrißhafte Zusammenfassung der Formen.
- Formen des Symbolismus mit der Intention, existentiellen Themen wie Angst, Krankheit, Tod, Sexualität und Eifersucht durch symbolhafte Formeln einen allgemeinen, für das aktuelle Dasein sinnstiftenden Ausdruck zu verleihen.
Angst 1894, Öl auf Leinwand, Geschrei 1895, Lithographie
"...ich würde diesen Leuten, die seit vielen Jahren meine Bilder anschauen und entweder lachen oder zweifelnd den Kopf schütteln, gern eine kleine Predigt halten - sie begreifen nicht, dass in diesen Werken auch nur der geringste Sinn enthalten sein könnte - dass ein Baum rot und blau sein kann, daß ein Gesicht grün und blau sein kann - sie wissen, dass das falsch ist - seit ihrer Kindheit sind sie daran gewöhnt, das Blätter oder Gras grün sind und die Hautfarbe rötlich ist - sie können nicht verstehen, dass es anders gemacht, ernst gemeint ist - es muß Unsinn sein oder schlampig gemalt - oder eine Geisteskrankheit - am liebsten das letzte! Sie können es nicht fassen, dass die Bilder im Leiden geschaffen, dass sie Ergebnisse schlafloser Nächte sind - dass sie jemand Blut und Nerven gekostet haben. Und sie behaupten, dass diese Bilder immer schlimmer und schlimmer werden und dass sich die Dinge in Richtung Wahnsinn entwickeln."
Expression:
- Zunehmende Ausdruckskraft der Formen und Heftigkeit der Farbbehandlung lassen ihn jedoch zu einer zentralen Figur des aufkommenden Expressionismus werden.
- Alle eingesetzten bildnerischen Mittel dienen der Steigerung des inneren Ausdrucks.
- Stilistisch und gesellschaftlich zeichnet Munch wie Van Gogh die Einsamkeit des Künstlers und die Arbeit im Alleingang gegen den Strom aus.
- Kunst bedeutete für Munch Selbstbefreiung und Bewältigung der eigenen Lebensgeschichte.
- Die Bildthemen handeln von den dunklen Seiten des Lebens und der Psyche. Hier öffnet Munch der Kunst eine völlig neue, tiefenpsychologische Dimension.
"Ich ging mit zwei Freunden die Straße entlang. Die Sonne ging unter und der Himmel färbte sich blutrot. Ein Hauch der Melancholie befiel mich. Ich blieb stehen und stützte mich todmüde auf das Geländer. Über der Stadt und dem schwarzblauen Fjord schwebten die Wolken wie Feuerzungen. Meine Freunde waren weitergegangen. Ich stand wie gelähmt und zitterte vor Angst. Mir war plötzlich, als hörte ich den ungeheuren, unendlichen Schrei der Natur ausbrechen..."
"...kann nur von einem Verrückten gemalt worden sein."